Veranstaltung Dr. Ruoff - Herder Bibliothek

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Dem Osten zugewandt....
Vortrag von Dr. Manuel Ruoff im Juli 2019                                                                                                   

LOKALES SEITE 5 | Mittwoch 31.07.2019

Kleine Geschichtsstunde in der Herder-Bibliothek

Manuel Rouff: „Versailles“ spaltet noch immer / Politisch verzerrte Darstellung des Vertragswerks hatte Mitschuld am Aufstieg Hitlers


GASTGEBER UND GAST: LUTZ GIESLER (HERDER-BIBLIOTHEK, L.), REFERENT DR. MANUEL ROUFF (M.) SOWIE PROF. DR. ULRICH PENSKI, VORSITZENDER DER BIBLIOTHEK. FOTO: RÖ

Weidenau. Die Auftaktfrage klang provokativ: „Vertrag“ oder „Diktat“ von Versailles? So läutete jetzt Dr. Manuel Rouff (Redakteur der „Preußischen Allgemeinen Zeitung“) in der Weidenauer Bismarckhalle vor den Zuhörern seinen Vortrag auf Einladung der Herder-Bibliothek Siegerland ein. Die Überschrift lautete „Die Friedensbedingungen von Versailles – und ihr friedensfeindlicher Gehalt in Bezug insbesondere auf den ostmitteleuropäischen Raum“.

„Versailler Diktat“ oder gar „Schanddiktat“, war das nicht zunächst ein geflügeltes Wort besonders in den ersten Jahren der Weimarer Republik gewesen, als vor allem die Deutschen am drastischsten unter den Reparationsforderungen der Siegermächte gelitten hatten, als vor allem Hunger und infolge dessen eine hohe Kindersterblichkeit vielerorts eine deren Hauptfolgen gewesen war? Und dann später von Hitler immer wieder als Hauptbeweggrund für den Aufbau seiner eigenen nationalsozialistischen Diktatur angeführt, die dann in einen erneuten, von Deutschland ausgehenden Weltkrieg mündete?
Soweit hierzulande das gängige Geschichtsbild. Zumindest bis zum Herbst 2013. Denn dann erschien Christopher Clarks Werk „Die Schlafwandler – wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. Darin rüttelte der australische Historiker Clark erstmals an der These, dass das deutsche Kaiserreich wegen seiner damaligen Großmachtträume die Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trug. Gleichzeitig gelangte mit seinen Thesen auch noch einmal ins öffentliche deutsche Bewusstsein, dass die Bundesrepublik Deutschland erst im Oktober 2010, 92 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, die letzte Rate seiner Kriegsschulden gezahlt hatte. Zum Tag der Deutschen Einheit wurden 200 Mill. Euro überwiesen. Die Restsumme der von den Alliierten ehemals 1921 eingeforderten, ursprünglich unglaublichen Summe von 1,8 Bill. Euro an Reparationszahlungen.

Genau die These von der Hauptverantwortung besagt laut Rouff aber Artikel 231 (der Kriegsschuldartikel), mit dem der Teil VIII (Wiedergutmachungen) des Versailler Vertrages beginnt: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“ Dabei führte auch er allerdings zugleich an, dass der Erste Weltkrieg (neben den Millionen von Toten, dem Verlust von Kriegsgerät aller Art und dem Verlust von Vermögenswerten etc.) außer den Verwüstungen im ehemaligen Ostpreußen vor dem Frieden von Brest-Litowsk in der Tat in erster Linie eine Schneise der Zerstörung in Belgien und Nordfrankreich hinterlassen habe.

Nun sind seit jenem 28. Juni 1919 in Versailles, als der deutsche Außenminister Hermann Müller gemeinsam mit dem deutschen Verkehrsminister Johannes Bell den Frieden von Versailles (und damit die Akzeptanz der deutschen Hauptverantwortung) unterzeichneten, hundert Jahre vergangen. In Kraft trat er am 10. Januar 1920. Dabei wies Rouff auf ein Detail hin, das selbst heutzutage in manchen politischen Lagern vermutlich immer noch Stirnrunzeln auslöst: Die vorausgegangenen Worte des seinerzeitigen sozialdemokratischen Regierungschefs Philipp Scheidemann „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?“ Daher war Scheidemann laut Dr. Rouff kurz zuvor zurückgetreten, um so nicht die Unterzeichnung des Versailler Vertrags verantworten zu müssen.

Dieser Vertrag war ein Vertrag (15 Teile mit zusammen 440 Artikeln), der die europäische Landkarte an vielen Stellen neu ordnete (nicht nur was die Abtretungen ehemals deutscher Gebiete betraf – auch der baltische Raum und der ehemalige habsburgische Vielvölkerstaat unterlagen den damaligen Verhandlungen in Versailles), so der Hamburger Referent fortführend.
Vor allem interessant für die anwesende Zuhörerschaft waren Rouffs Aussagen zu den Teilen II und III des Versailler Vertrags betreffend die „Grenzen Deutschlands“ und die „politischen Bestimmungen über Europa“. Seine Interpretationen dazu lauteten zusammenfassend: „An etwa die Hälfte seiner Nachbarn musste Deutschland Gebiete abtreten, darunter auch Nachbarn, gegen die es gar nicht Krieg geführt hatte. Das ließ den Verdacht aufkommen, dass es ein Ziel der Sieger war, möglichst viele Nachbarn Deutschlands mit deutschem Siedlungsgebiet zu versehen, auf dass auch sie an der Niederhaltung Deutschlands interessiert waren.“ Fakt ist, dass das Deutsche Reich etwa 13 Prozent seines Territoriums mit 10 Prozent seiner Bevölkerung verlor.

Die ausführlichsten Forschungen hatte Rouff jedoch den Gebieten östlich der ehemaligen DDR gewidmet. Vorneweg über die damaligen Gebietszugewinne Polens: Demnach erhielt Polen die meisten Gebiete von Deutschland, darunter den größten Teil der ehemaligen preußischen Provinzen Posen und Westpreußen. Und von Ostpreußen habe Polen das ehemals Soldauer Gebiet erhalten, weil durch dieses Gebiet die Bahnverbindung von Warschau nach Danzig verlaufen sei, so Manuel Rouff weiter.

Als einen folgenschweren Einschnitt erachtet der Referent mit dem norddeutschen Zungenschlag nicht zuletzt die Abstimmungsvorschriften bezüglich Oberschlesien. Im Gegensatz zu den Abstimmungsgebieten Marienwerder und Allenstein stimmten dort nur sechs Zehntel für den Verbleib im Deutschen Reich. Die Folge davon war eine Teilung Oberschlesiens, wodurch Polen den seiner Meinung nach wirtschaftlich ungleich interessanteren Teil Oberschlesiens erhielt. Nämlich jenen Teil, in dem bis dahin rund ein Viertel der gesamten deutschen Steinkohle gefördert worden sei. Überhaupt aufschlussreich seine Auflistung insgesamt, was die deutschen ökonomischen Folgen aufgrund der Gebietsverluste betraf: Verlust seines bis dahin existierenden Weltkalimonopols, 80 Prozent seiner Eisenerzvorkommen, 63 Prozent der Zinkerzlager, 28 Prozent seiner Steinkohleförderung, 40 Prozent seiner Hochöfen, etwa ein Fünftel seiner Kartoffel-, Roggen- und Getreideerzeugung, rund ein Zehntel der Weizen- und Hafererzeugung.

Rouffs Fazit: Im Vergleich zu Westeuropa sei Mittelosteuropa nach Versailles viel mehr durchgeschüttelt worden. Schließlich hätten die westlichen Sieger zwischen den feindlichen Paria-Staaten und Großmächten Deutschland und Russland einen sogenannten „Cordon sanitaire“ (ein Isolationsgebiet zur Eindämmung von Seuchen) eingerichtet. Ein Gebietsgürtel von der Ostsee bis zum schwarzen Meer, bestehend aus den Ländern Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien. Eine vor allem seiner Meinung nach aus französischer Sicht eingerichtete Konstruktion, um nicht nur das Übergreifen des Sowjetkommunismus, sondern auch die Ausweitung des deutschen Einflusses Richtung Osten zu verhindern.

Bekanntlich gehörte dann mit Beginn des Kalten Krieges der gesamte „Cordon sanitaire“ zum Ostblock, zum sozialistischen Lager (mit Ausnahme Finnlands). Und heute? Er lebt laut Rouff weiter, wenn auch nun unter westlicher Ägide und als Bestandteil der NATO. Seine heutige Hauptaufgabe: Die Eindämmung des Einflusses Russlands, so seine Analyse. Und weiter: „Die Nebenaufgabe, Deutschland einzudämmen, hat sich durch die Westintegration der Bundesrepublik erübrigt. Das NATO-Mitglied Bundesrepublik ist – wenn man so will – als Mitglied der NATO selber ein Mitglied des „Cordon sanitaire“.

Der Ostpreußen-Blatt-Schreiber Rouff räumte zum Schluss ein, dass Versailles nach wie vor spalte. Seines Erachtens zeichnet sich die Grundlinie der „Versailles-Verteidiger“ dadurch aus, indem sie behaupteten, dass Versailles gar nicht so schlimm gewesen sei, sondern dass vielmehr die nationale Rechte in Deutschland in den 20er-Jahren Versailles als schlimm dargestellt und instrumentalisiert habe zur Bekämpfung westlicher, prowestlicher Politiker, wodurch diese nicht nur eine Mitschuld an der Destabilisierung Weimars, sondern auch am Aufstieg Hitlers und dem daraus resultierenden Weltkrieg hätten.
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