Dem Osten zugewandt....
Vortrag von Herrn Dr. Gorski
Karl der Große die erste Barriere
Dr. Dietmar Gorski referierte bei Herder-Bibliothek / Eckpunkte der deutschen Historie
Die Reformation war eine „ganz große Zäsur“.
rö ■ Es ist ein Markenzeichen der Siegener Herder-Bibliothek, Themen aufzugreifen, die mehrheitlich in unserer Gesellschaft längst für obsolet erachtet werden. So scheuten sich die Initiatoren in der Bismarckhalle nicht, die entscheidenden Stationen der deutschen politischen Geschichte seit Karls des Großen bis zu den Ursachen der Weltkriege und der gegenwärtigen Situation zu beleuchten.
„Eckpunkte deutscher Historie und deren Folgen bis heute“, unter dem Titel nahm der Siegener Hobby-Historiker Dr. Dietmar Gorski Stellung. „Seit langem frage ich mich, warum in dem langen Zeitabschnitt deutscher Geschichte sich sehr unterschiedliche historische Dynamiken ereignet haben. Warum kam es zu einem Machtvakuum im Zentrum Europas, warum zur totalen Zersplitterung? Warum nahmen England, Frankreich und Russland im Gegensatz zu Deutschland eine völlig andere Entwicklung?“
Interessanterweise sieht Gorski in der Person Karls des Großen, der 800 n. Chr. in Rom von Papst Leo III zum Kaiser gekrönt wurde, eine erste Barriere bei der Ausbildung einer späteren deutschen Nation. „Er verstand sich als Nachfolger der römischen Imperatoren und als Beschützer heiliger, christlicher Stätten.“ Und bereits im 12. Jahrhundert habe man sich darauf verständigt, dass letztlich die Wahl der Fürsten den zukünftigen Kaiser bestimmten (Höherstellung des Wahlrechts über dem Geburtsrecht). „Nochmals verstärkt durch die Goldene Bulle von 1356, dem ,Grundgesetz’ des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“, so Girski
Im Unterschied dazu hätten sich Frankreich und auch England längst angeschickt, die Entwicklung verstärkt in Richtung zentraler, nationaler Staaten zu lenken. Deren geografische Lage habe sich als förderlich erwiesen – England durch seine Insellage und Frankreich aufgrund seiner natürlichen Abgrenzungen. Eine ganz große Zäsur sei die Reformation von 1517 gewesen. Religionsneugründung, massiver Machtverlust des katholischen Kaisertums. Mit dem Westfälischen Frieden von 1648 seien neben den Gebietsabtretungen an Frankreich und Schweden auch die Erlangung der Unabhängigkeit der Niederlande und der Schweiz vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einhergegangen – bei einer gleichzeitigen Stärkung der Reichsstände. Das Reich sei somit zu einem „machtlosen Monstrum aus 41 Einzelstaaten“ mutiert. Frankreich wiederum habe seine Vormachtstellung weiter ausgebaut, nicht zuletzt durch den sogenannten Pfälzer Erbfolgekrieg von 1688, so Gorski in seinem Streifzug.
Zugleich hätten Franzosen und Engländer mit dem Erwerb von Kolonien begonnen, während Russland immer weiter in den Osten Asiens eingedrungen sei, hielt der Referent fest. 1871 schließlich in Versailles die Reichsgründung durch Bismarck. Auch wer Gorskis historischen Interpretationen nicht zustimmen mochte, sollte akzeptieren, dass Bismarcks Reichsgründung außerhalb Deutschlands nicht unbedingt auf Freude stieß. Nicht nur in Frankreich. Denn mit der Reichsgründung ging zugleich ein enormer Wirtschaftsaufschwung Deutschlands einher, wodurch fortan Staaten wie England und den USA eine enorme wirtschaftliche Konkurrenz erwuchs. 1910 belegte Deutschland schließlich sogar Platz 2 „im Ranking“ der weltweit führenden Wirtschaftsstaaten.
So hält es der Siegener nicht für verwunderlich, dass schon etliche Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Europa eine Gefühlslage geherrscht habe, die in den einzelnen Staaten zu einer Melange aus Misstrauen, Bedrohtsein und Revanchegedanken geführt habe. Das auch noch gepaart mit der Unfähigkeit, die möglichen Folgen des Handelns zu bedenken, so Gorskis Resümee. Dennoch glaubt auch der Referent, dass es sich bei der seinerzeit angeblich überall in Europa anzutreffenden Kriegsbegeisterung um nachträgliche Propaganda handelt.
Wie sah es in Siegen aus? Laut Gorski gibt ein Text aus der Siegener Zeitung vom 1. August 1914 Auskunft: „Ernst und ruhig [...] ist die Stimmung der Bürgerschaft. Als gestern die Verhängung des Kriegszustandes bekannt geworden war, zeigte sich die Wirkung bald in dem ganzen Verhalten des Publikums, das die inhaltsschwere Nachricht mit Fassung aufnahm.“
Für eine hitzige Diskussion im Anschluss sorgte Gorski, als er auf aktuelle englischsprachige Historiker wie Christopher Clark (Autor von „Die Schlafwandler“), Gerry Docherty und Jim Macgregor (Autoren von „Verborgene Geschichte“) zu sprechen kam, wonach Deutschland nicht die Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trage. Dennoch gab es an dem Abend einen Grundkonsens: In Europa muss primär der Frieden gewahrt werden.
Bericht und Bild entnommen aus der Siegener Zeitung