Dem Osten zugewandt....
Vortrag von Herrn Scheil im März 2018
Von Peter dem Großen bis Wladimir Putin
Der Mannheimer Historiker Dr. Stefan Scheil nahm Stellung zu 300 Jahren deutsch-russischer Beziehungen
Provokante These:
„Seit 500 Jahren haben
die Russen einen Drang nach Ausweitung.“
rö ■ Trotz aller allgemeinen Angstszenarien muss sich zwangsläufig der Fokus bei uns in der Region auf diejenigen Machthaber richten, deren Handeln und die damit verbundenen Folgen uns primär betreffen. Und das heißt, egal, wie auch immer man zu Wladimir Putin stehen mag, der neue russische Zar, wie er inzwischen von vielen im Westen genannt wird, kann auch uns südwestfälischen Bürgern nicht gleichgültig sein. So sieht es offensichtlich auch der Vorstand der Siegener Herder-Bibliothek, der deshalb jetzt zu einem Vortrag unter der Überschrift „Von Peter dem Großen bis Wladimir Putin“ (300 Jahre deutsch-russische Beziehungen) von Dr. Stefan Scheil in die Weidenauer Bismarckhalle eingeladen hatte.
Dabei zeigte der Mannheimer Historiker und Gerhard-Löwenthal- Preisträger Facetten auf, die teilweise sowohl unter Historikern als auch in den Medien nach wie vor kontrovers diskutiert werden. Scheils Sichtweise unterscheidet sich in einem Hauptpunkt vor allem dadurch, dass er die unter den deutschen Nachkriegshistorikern weit verbreitete Auffassung von einer traditionell deutsch-russischen Freundschaft (d. h. zunächst einmal preußisch-russischen Freundschaft) in Frage stellt. „Seit 500 Jahren haben die Russen einen Drang nach Ausweitung“, so seine provokante These zum Vortragsauftakt vor knapp 30 Zuhörern. Doch ab ungefähr 1700 habe unter Peter dem Großen dieser Drang fortan nicht mehr allein in Richtung Osten gegolten, wo die Pazifikküste eine natürliche Grenze darstellte (abgesehen von Alaska), so Scheils Annahme.
Scheil verwehrte sich auch gegen die Auffassung, dass mit Peter dem Großen eine Verwestlichung Russlands stattgefunden habe. Als Begründung dafür verwies er auf die damals im Deutschen Reich (trotz seiner noch vorhandenen Aufteilung in viele Kleinstaaten) schon deutlich vorhandenen Rechtsstrukturen. Im Gegensatz dazu habe Peter der Große wie auch seine Vorgänger eine zentrale Staatenlenkung bevorzugt, so der freie Mitarbeiter von FAZ und Junger Freiheit.
Mit der Entscheidung Peter des Großen im Jahre 1703 für die Gründung einer Hafenstadt in der Newa-Bucht am Ostende des Finnischen Meerbusens ist laut Scheil eine erste geostrategische Grundsatzentscheidung in Richtung Westen gefallen. Diese sei wiederum eng mit dem drei Jahre zuvor begonnenen und dann 20 Jahre andauernden sogenannten großen nordischen Krieg um die Vorherrschaft im Ostseeraum verbunden, so Scheil weiter. Bis dahin sei die damalige Großmacht Schweden der Herrscher rund um die Ostsee gewesen, ergänzte er. Und weiter: „Somit standen auch Finnland und die baltischen Staaten bis 1721 unter schwedischer Regie“. Ab da bestimmte das russische Zarenreich das dortige Leben.
Allerdings habe Zar Peter den baltischen Staaten einen Sonderstatus eingeräumt, fügte der Wissenschaftler an. Doch mit der Gründung von St. Petersburg (für dessen Aufbau laut Scheil Leute aus ganz Russland und ohne Rücksicht auf das dortige extrem harte Winterwetter vor Ort abkommandiert worden seien) habe sich zugleich eine neue Situation für das damalige Königreich Preußen ergeben, erklärte der Historiker. Bis dahin kann seiner Auffassung nach durchaus von einer neutralen Beziehung zwischen Preußen und Russen gesprochen werden. „Doch ab 1760, als Russland im Zuge des Siebenjährigen Krieges nicht nur Polen eroberte, sondern darüber hinaus auch jahrelang Königsberg besetzte, kann von neutraler Beziehung keine Rede mehr sein“, so der Herder-Bibliothek- Referent weiter.
Die folgenden Jahrzehnte verliefen bekanntlich alles andere als friedlich. Die Aufteilung Polens und Litauens ließen auch die Preußen nicht unberührt. Schließlich rückte damit Russland direkt an die Grenze zu Preußen. Und nach dem Wiener Kongress von 1815 waren es von Berlin bis Russland nur noch 150 Kilometer. Überhaupt sieht Scheil in den Wiener-Kongress- Beschlüssen wichtige Weichenstellungen für den späteren europäischen Geschichtsverlauf. Er vertritt die Ansicht, dass in Wien u. a. klar erkennbar wurde, dass niemand von den europäischen Mächten ein Interesse daran gehabt habe, dass es wieder zu einer Neugründung eines Deutschen Reiches komme. Auch Russland nicht. Und erst recht müsse die Vorstellung von der Möglichkeit einer Neuetablierung einer mitteleuropäischen Macht, dass es eines Tages vielleicht doch noch einmal zu einer Vereinigung von Deutschland, Tschechien, der Slowakei und Österreich kommen könnte, bei allen anderen Kongressteilnehmern mehr als Unbehagen ausgelöst haben, so der Badener weiter. Erst die Burschenschaften ab 1818 hätten zumindest für eine deutsche Nationalbewegung Anschub geleistet.
Durchaus kritisch bewertete Scheil im Anschluss daran die Ausschlagung der Kaiserkrone durch den preußischen König Friedrich IV. 1849 in Frankfurt nach der ersten freien Wahl in der dortigen Paulskirche. Dieser habe eine Demokratenkrone lapidar abgelehnt. Nach der zweiten deutschen Reichsgründung 1871 in Versailles haben laut Scheil dann sehr bald die Franzosen damit begonnen, für Missstimmungen zwischen Berlin und dem russischen Zar zu sorgen. Nur 20 Jahre später unterzeichneten Russland und Frankreich einen Geheimvertrag (Französisch-Russische Allianz), worin sie sich ihre gegenseitige Unterstützung zusicherten, falls es in Zukunft zu einem Krieg mit Deutschland käme. Gleichzeitig war somit die Grundlage für die machtpolitischen Blöcke im Ersten Weltkrieg gelegt.
In diesem Zusammenhang erinnerte Scheil an den Würzburger Historiker Rainer Schmidt, der 2014 Mutmaßungen aus den 1920er-Jahren aufgegriffen hat, wonach die französische Regierung nach dem Attentat von Sarajevo auf den österreichischen Thronfolger Russland zu einem harten Vorgehen gegen Österreich-Ungarn provoziert habe. Der Krieg zwischen Deutschland und Russland wurde beendet am 3. März 1918 mit dem Frieden von Brest-Litowsk. Dieser ermöglichte den baltischen Staaten und der Ukraine ihre nationalen Neugründungen. Gleichzeitig begann andererseits mit der militärischen Niederlage Russlands die Manifestierung der russischen Oktoberrevolution.
Das Leid, das Deutsche und Russen sich gegenseitig im Zweiten Weltkrieg zufügten, bildet auch für den Historiker Scheil eine Messlatte für die Zukunft in einer multipolaren Weltlage. Oberstes Credo: Freundschaften müssen ausgebaut werden. In diesem Zusammenhang sind für Scheil Militäreinsätze im Pazifikraum ein absolutes No-Go. Beängstigend auch für ihn die derzeitige Situation im nahen Osten, gekennzeichnet durch Bevölkerungsexplosion und Islamisierung, der zugleich auch Interessengebiet von Saudi-Arabien, des Iran, der Türkei und nicht zuletzt Russlands darstellt. Demgegenüber die Europäische Union, deren Hauptübel seiner Auffassung nach die nach wie vor bestehenden völlig unrealistischen Erweitungspläne seien, in der selbst Länder Marokko und Ägypten als zukünftige Mitgliedsländer gehandelt würden.
Im Gegensatz zu diesem immer größer werdenden multikulturellen Schmelztiegel EU bleibe auch im Russland Putins das russische Volk identitätsstiftend, so Scheils These. Darin sieht er auch den Grund für die Annahme im Westen, dass Parteien wie die deutsche AfD oder der französische Front National von Russland gesteuert seien. Es sind seiner Auffassung nach (neben den Konfliktpunkten Ukraine und Krim) nicht zuletzt derartige Vorwürfe, die dazu beigetragen hätten, dass sich Russland in den letzten Jahren zunehmend nicht als Freund empfunden habe.
Auch für ihn bleibe abzuwarten, welchen Weg Deutschland zukünftig gehen wird. Die Frage sei, ob es sich im Gefolge von Großbritannien, den USA bzw. der EU bewege oder souverän einen eigenen Weg einschlage. Die mögliche Folge eines souveränen Weges? Deutschland könnte in den Verdacht geraten, sich zum Handlanger der russischen Politik zu machen, so Scheils Schlussfolgerung.
Bericht und Bild entnommen aus der Siegener Zeitung